Im Jahr 1974 genügen 59 kW (80 PS) für einen Zeitsprung: Diese Leistung entwickelt der Fünfzylinder-Dieselmotor des Mercedes-Benz 240 D 3.0 und macht die landläufig „Strich-Acht“ genannte Baureihe 115 zum spurtstärksten und schnellsten Diesel-Pkw der Welt. Das Dieselaggregat verbindet starke Antriebskraft mit überzeugender Wirtschaftlichkeit. Zugleich ist der 240 D 3.0 der erste Serien-Pkw mit einem Fünfzylindermotor.
Fünfzylinder-Dieselmotoren sind vor 40 Jahren nicht grundsätzlich neu, in Lastwagen und als Stationäraggregate haben sie sich bereits bestens bewährt. Doch mit dem Einsatz in einem Pkw schreibt Mercedes-Benz Schlagzeilen und übernimmt auf dem Gebiet der Motorentechnik eine Vorreiterrolle. Der neue Motor beschleunigt den 240 D 3.0 in 19,9 Sekunden von 0 auf 100 km/h, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 148 km/h (Automatik: 20,8 Sekunden, 143 km/h). Damit steht der 240 D 3.0 zum Zeitpunkt seiner Vorstellung unangefochten an der Spitze der Diesel-Pkw. „Seine Kultiviertheit und Laufruhe und seine Wirtschaftlichkeit (10,8 Liter Diesel auf 100 Kilometer) werden dem neuesten Mercedes-Diesel einen neuen großen Kundenkreis erschließen“, prophezeit die Pressemitteilung und führt fort: „Mit dem 240 D 3.0 ist Dieselfahren noch attraktiver geworden.“ Aus heutiger Sicht zählt das Auto zweifellos zu den Wegbereitern des andauernden Diesel-Erfolgs.
Mit der Entwicklung des Motors OM 617 reagiert Mercedes-Benz auf die Leistungsgrenzen, an denen bisherige Vierzylinder-Dieselmotoren im Pkw angelangt waren. Der Nachfrage nach mehr Hubraum, aus dem sich mehr PS herauskitzeln lassen, stehen dabei die begrenzten Platzverhältnisse im Motorraum gegenüber. Ein Sechszylinder wäre zu lang, zu schwer und zu teuer – erprobt hat ihn Mercedes-Benz. Fünf Zylinder erscheinen da als der optimale Kompromiss.
Die Ingenieure entwickeln den Reihenfünfzylinder OM 617 für den Einsatz im Serien-Pkw auf Basis der 2,4-Liter-Maschine OM 616. Deren bewährte Eigenschaften werden beibehalten, der Fünfzylinder erhält allerdings eine neue Bosch-Einspritzpumpe, die durch Ölkanäle an den Ölkreislauf des Motors angeschlossen und deshalb wartungsfrei ist. Ein mechanischer Regler ersetzt den bei den kleineren Diesel-Typen üblichen pneumatischen Regler. Dies kommt dem Fahrkomfort zugute, der 240 D 3.0 mit Handschaltgetriebe zeigt kaum noch Lastwechsel-Reaktionen, und mit Automatikgetriebe wird im Teillastbereich wesentlich weicher geschaltet.
Aus dem auf 3.005 Kubikzentimeter vergrößerten Hubraum schöpft der Reihenfünfzylinder nun 59 kW (80 PS) bei 2.400/min. Über die zusätzliche Leistung zeigen sich auch die Pressevertreter erfreut: „In der Praxis macht sich diese Leistungszulage sehr angenehm bemerkbar. […] Kurz und überspitzt formuliert: Der 240 D 3.0 ist der erste Diesel-Pkw, der auch im Schnellverkehr mitschwimmen kann, ohne andere zu behindern“, schreibt die „Auto Zeitung“. Und auch „auto motor und sport“ urteilt: „Die 15 Mehr-PS gegenüber dem 240 D verhelfen dem 3.0 trotz der längeren Übersetzung zu einer Gangart, mit der sich auch Fahrer anfreunden können, die keine ausgesprochenen Diesel-Fans sind.“
Innovation zeigt er auch in der Bedienung: Weil statt der mechanischen Abstellvorrichtung des 2,4-Liter-Motors nun eine pneumatische Einrichtung verwendet wird, kann das Aggregat mit dem Zündschlüssel ausgeschaltet werden. Auch das Anlassen der Maschine erfolgt beim 240 D 3.0 durch das Umdrehen des Schlüssels und nicht, wie bisher, durch Ziehen eines Hebels: Dreht der Fahrer den Zündschlüssel, wird der Vorglühvorgang eingeleitet und eine Kontrolllampe leuchtet auf. Wenn das Lichtzeichen nach einiger Zeit erlischt, kann der Motor mit dem Schlüssel normal angelassen werden. Was mittlerweile selbstverständlich scheint, wird 1974 als komfortable Neuheit geschätzt, die sich nach und nach bei allen Diesel-Pkw der Marke und auch darüber hinaus etabliert.
Mercedes-Benz verwendet den Fünfzylinder-Diesel auch in anderen Fahrzeugen, beispielsweise in leichten Transportern oder von 1978 an in der S-Klasse 300 SD (Baureihe 116), die für den Export in die USA bestimmt ist; dort leistet das mit einem Abgas-Turbolader versehene Aggregat 82 kW (111 PS) bei 4.200/min.
Im Juni 1976 sorgt der Experimentalwagen C 111-II D für Furore: Zur Erprobung des Hochleistungs-Dieselmotors leistet das Aggregat in diesem Sportwagen dank Turboaufladung und Ladeluftkühler 140 kW (190 PS). Auf der Teststrecke in Nardò/Italien überzeugt der C 111-II D mit spektakulären Geschwindigkeiten. Insgesamt 16 Weltrekorde stellen vier Fahrer in 60 Stunden auf, davon gelten 13 für Dieselfahrzeuge und 3 für Automobile aller Motorisierungen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der rasanten Versuchsfahrt liegt bei mehr als 250 km/h, und Mercedes-Benz beweist, dass auch der Diesel sprinten kann.
Die ursprüngliche „Strich-Acht“-Modellpalette umfasst sechs Typen: Die vier Vierzylindermodelle sind in der Baureihe 115 zusammengefasst, die beiden Sechszylindermodelle werden der Baureihenbezeichnung 114 zugeordnet. Darüber hinaus erhalten sie zur Unterscheidung eine Kühlermaske mit grobmaschigerem Gitter. Das hervorstechende konstruktive Detail der neuen Baureihe liegt unter dem Kofferraum: die sogenannte „Diagonal-Pendelachse“. Gegenüber den Vorgängermodellen bringt die neue Achse deutlich verbesserte Fahreigenschaften, ohne dass dabei Einbußen beim Fahrkomfort entstehen. Die Baureihe 114/115 ist generell ein großer Schritt nach vorn und setzt Maßstäbe für die späteren Generationen der oberen Mittelklasse von Mercedes-Benz, der heutigen E-Klasse.
53.690 Exemplare des Typs 240 D 3.0 werden von 1974 bis 1976 produziert, von der Baureihe W 115 werden insgesamt 945.206 Dieselfahrzeuge verkauft.
(c) Foto: Mercedes Benz